Walter starrte auf die Tagesschausprecherin und traute seinen Ohren nicht. War jetzt das eingetreten, was Behörden und Wissenschaftler immer als unmögliches Szenario beschrieben hatten? Der atomare Super-GAU. Während Walter die möglichen Konsequenzen überschlug und welchen Freund er anrufen wollte, um die Beklommenheit mit jemandem auszutauschen, hatte die Nachrichtensprecherin bereits zum nächsten Thema übergeleitet. Walter zappte hektisch durch die Sender auf der Suche nach mehr Informationen und als kein anderer Kanal vom Vorfall berichtete, kehrte er zurück zur Tagesschau. Der Sportreporter berichtete inzwischen von Steffi Grafs Sieg in Wimbledon. Walter drückte entnervt auf den Ausknopf und knallte die Fernbedienung zornig auf den Tisch. Durch den Knall des Aufpralls erwachte Amber und begann zu wimmern.
„Sch-sch-sch, Kleines!“, versuchte der Vater sein aufgestörtes Kind zu beruhigen. „Aber du hast recht, mir ist auch zum Weinen! Ich habe immer gesagt, dass diese verdammte Kernenergie teuflisch ist!“
Als Meilin zwei Stunden später beschwingt nach Hause kam, fand sie Walter im Wohnzimmer im Radius der Telefonschnur auf und ab gehen. Er war sichtlich außer sich. Meilin verstand nicht, worum es ging. Walter sprach empört und kämpferisch in seiner Mundart in den Hörer, während er die Kringel des Kabels um seinen Zeigefinger wickelte. Meilin schnappte die Wortfetzen „Greenpeace“, „Demonstration“ und „Atom“ auf, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Walter sah zum Schreien aus, wie er in seiner Montur in der Stube herumtigerte. Beinahe hätte Meilin laut herausgelacht, aber sie spürte, dass das bei Walters Beunruhigung nicht angebracht war, und biss sich auf die Lippen. Mit einer schaukelnden Armbewegung fragte sie pantomimisch nach Ambers Verbleib. Walter zeigte beim Weitersprechen mit einer Kopfbewegung zum Schlafzimmer. Dort fand Meilin Amber mit wachem Blick im Graben des Doppelbettes zwischen zwei Wällen aus Daunendecken unter ihrer Babydecke aus Flanell auf dem Lammfell strampeln. Meilins Brüste waren schwer, die Milch tröpfelte bereits und hatte zum Glück erst auf dem Heimweg Büstenhalter, T-Shirt und Hemd durchtränkt. Der Film war fantastisch gewesen, hatte Meilin für einen kostbaren Augenblick in eine heile, abenteuerliche, romantische Welt verführt. Doch jetzt war sie froh, dass Amber die triefende, linke Brustwarze mit dem kleinen hungrigen Mund umschloss, ansaugte und die milchschwere Brust erleichterte. Meilin liebte das Stillen, es schenkte ihr Selbstbewusstsein und machte sie stolz. Wenigstens das gelang ihr, sie nährte ihre Tochter. Und diese schenkte ihr im Gegenzug bedingungslose menschliche Wärme.
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